Güldane Tokyürek ist Juristin und kommt aus einer politisch aktiven türkisch-alevitischen Familie. Seit 2014 engagiert sie sich im Kölner Stadtrat für DIE LINKE, deren Fraktionssprecherin sie ist. Warum eine Demokratie gefährdet ist, wenn marginalisierte Gruppen nicht teilhaben können und wieso sich Menschen aufgrund ihrer Herkunft nicht in Schubladen stecken lassen sollten, wenn sie politisch aktiv werden, erklärt sie im Interview für unsere Portraitreihe zur Vielfaltsstudie.
Zonya Dengi: Hallo Frau Tokyürek, Sie sind seit knapp 10 Jahren für die Linken aktiv in der Kölner Kommunalpolitik, wann und wie hat ihre politische Karriere begonnen?
Güldane Tokyürek: Ich stamme aus einer politisch engagierten türkisch-alevitischen Familie. Schon als Kind begleitete ich meine Eltern zu linken Veranstaltungen und Demonstrationen. In den 1980er und 1990er Jahren habe ich aktiv an Demonstrationen gegen Asylrechtsverschärfungen, Rassismus und an Kundgebungen bei türkeirelevanten Themen teilgenommen. Meine Eltern waren sehr politisch. Sie haben mit Freunden einen Verein gegründet und wir haben parallel dazu als Jugendliche eine Jugendgruppe ins Leben gerufen und Veranstaltungen organisiert. In die Kommunalpolitik kam ich im Jahr 2013 über Freunde. Ich war zuerst im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW und später, als die Kommunalwahlen anstanden, wurde ich gefragt, ob ich für die Linken kandidieren wolle. Damals war ich noch kein Mitglied der Partei. Bei der Kommunalwahl 2014 habe ich schließlich auf Listenplatz 5 kandidiert.
Sechs Jahre später wurden Sie 2020 zur Spitzenkandidatin der Kölner Linken. Wie kam es dazu?
Nach sechs Jahren im Rat wusste ich, dass ich gerne noch eine weitere Ratsperiode absolvieren möchte. Als mir die Möglichkeit geboten wurde, Spitzenkandidatin zu werden, habe ich sie genutzt, da ich wirklich viel Unterstützung und Rückendeckung aus der Fraktion und Partei hatte. Es ist sehr wichtig, dass Menschen einem etwas zutrauen.
Das klingt nach einer reibungslosen politischen Laufbahn, gab es auch Hürden?
Als Frau mit Zuwanderungsgeschichte kam ich automatisch in den Integrationsrat. Das habe ich damals unbedarft mitgemacht und das war auch eine schöne Zeit. Aber ich würde mir wünschen, dass man künftig schaut, wo die Fähigkeiten des Einzelnen liegen. Mit Blick auf Repräsentation ist es ein Fehler, jemanden mit Zuwanderungsgeschichte automatisch den Bereichen Soziales und Integration zuzuordnen. Nicht, weil diese Bereiche unwichtig sind. Sie sind sogar wichtiger denn je. Aber man sollte schauen, welche Fähigkeiten Menschen mitbringen. Als sich 2020 abzeichnete, dass ich Fraktionssprecherin werde, bin ich aus dem Integrationsrat ausgetreten und habe die Ausschüsse für Verkehr, Finanzen, Allgemeine Verwaltung, Rechtsfragen und Internationales übernommen. Im Ausschuss für Allgemeine Verwaltung kann ich meine juristischen Kenntnisse einbringen. Außerdem bin ich im Aufsichtsrat der KVB, der Kölner Verkehrsbetriebe AG. Insofern habe ich mich von den mir zugeschrieben Themen gelöst und emanzipiert.
Welchen Rat würden Sie jungen Menschen, die in die Kommunalpolitik gehen möchten, aufgrund Ihrer Erfahrungen mitgeben?
Ich würde ihnen raten, im Vorfeld ihre eigenen Interessen zu erkunden und sich nicht sofort in Schubladen stecken zu lassen. Es ist wichtig, sich zu fragen, was einen persönlich interessiert, und dies offen zu kommunizieren. Die Parteien und Fraktionen sollten jungen Menschen ermöglichen, ihre Interessen zu entdecken und zu fördern.
Was können Parteien noch tun, um junge Menschen für die Kommunalpolitik zu begeistern?
Parteien sollten proaktiv auf junge Menschen zugehen und niedrigschwellige Formate schaffen, um sie für die Kommunalpolitik zu gewinnen. Das Kommunalpolitiksystem ist recht komplex. Eine der Herausforderungen sind z.B. die Sitzungszeiten. Oft finden diese mitten am Tag statt, etwa um 15:00 Uhr oder sogar später, was für junge Menschen, die in der Schule oder Arbeit sind, problematisch ist. Es ist wichtig zu klären, welche Altersgruppen von jungen Menschen wir ansprechen möchten. Jugendliche haben möglicherweise andere Bedürfnisse und Erwartungen als Menschen, die bereits mitten im Berufsleben stehen. Die Formate und Strukturen müssen flexibel und auf die Bedürfnisse verschiedener Altersgruppen zugeschnitten sein.
Sie leben Köln, einer sehr diversen und vielfältigen Stadt. Wo sehen Sie noch Defizite beim Stichwort Repräsentanz?
Da gibt es noch einige Baustellen. Im Kölner Rat beispielsweise sind wir 90 Ratsmitglieder und vielleicht haben maximal 10 % erkennbar eine Zuwanderungsgeschichte. Der Rat sollte aber die Stadtgesellschaft widerspiegeln. Das tut er nicht. Auch die sexuelle Vielfalt wird nicht ausreichend abgebildet. Mit dem Frauenanteil ist es etwas besser geworden, ich glaube, wir liegen bei ca. 40 % und sind damit besser aufgestellt als auf der Bundesebene. Aber auch beim Frauenanteil sollte unser Anspruch Parität sein. Hier sind die Parteien in der Pflicht, mehr Menschen anzusprechen und sie motivieren, auf kommunaler Ebene zu arbeiten.
Spielt Ihre Einwanderungsgeschichte eine Rolle für Ihre politische Arbeit?
Ja, meine Einwanderungsgeschichte beeinflusst meine politische Arbeit. Meine Eltern sind Teil der sogenannten Gastarbeitergeneration gewesen. Das gehört zu meiner Geschichte. Ich habe gesehen, unter welchen Umständen sie gelebt haben, wie sie versucht haben, uns Kinder großzuziehen und uns ein besseres Leben zu ermöglichen. Diese Erfahrung hat mich nachhaltig geprägt.
Was treibt Sie an, sich politisch zu engagieren?
Ich denke, es ist eine Kombination aus Herkunft, meinem Anspruch auf soziale Gerechtigkeit und meine Vision für eine bessere Gesellschaft. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich mittlerweile viel realistischer bin als früher. Aber die Themen gerechte Löhne, Gesundheit und eine Rente, die den Menschen ein würdevolles Leben ermöglicht, nachdem sie jahrelang gearbeitet haben, sind noch immer relevant für meine Arbeit. Ich habe in meinem eigenen Umfeld viele Frauen türkischer Herkunft, die jahrzehntelang gearbeitet haben und dann nur eine kleine Rente bekommen.
Gibt es ein Projekt oder eine Initiative, auf die Sie besonders stolz sind?
Ja, kürzlich konnten wir eine Lösung für Menschen mit Schwerbehinderung finden, die nach ihrer Ausbildung im Büromanagement von der Stadt nicht übernommen wurden. Wir haben gemeinsam mit Verdi und den Grünen eine Lösung erarbeitet.
Wie wichtig ist die Teilhabe von marginalisierten Gruppen an der Demokratie?
Sie ist enorm wichtig. Eine Demokratie ist gefährdet, wenn marginalisierte Menschen nicht teilhaben können und ihren Beitrag in welcher Form auch immer nicht leisten können. Gerade in diesen Zeiten, wo die Demokratie unter immensem Druck steht, ist es entscheidend dafür zu sorgen, dass jede und jeder politisch angemessen vertreten wird. Alle Mitglieder der Gesellschaft sollten die Möglichkeit haben, ihre Rechte und Pflichten auszuüben. Ohne angemessene Vertretung laufen wir Gefahr, dass die Bedürfnisse dieser Gruppen nicht gehört werden.
Haben Sie sich selbst jemals als Teil einer marginalisierten Gruppe gefühlt?
Ja, vor allem in den 1980er und 1990er Jahren fühlte ich mich nicht immer als vollwertiger Teil der Gesellschaft. Obwohl ich mich mittlerweile integriert fühle, gibt es immer noch Momente, in denen ich eine Art gläserne Decke spüre, besonders, wenn ich mit Menschen spreche, die eine ähnliche Geschichte haben. Es gibt immer noch Hürden, die überwunden werden müssen.